Zurück

P. Norbert Hinckers OP


"Wir sind nur Gast auf Erden…"
"Die Wege sind verlassen und oft sind wir allein"
Überlegungen zu "Wiedergeburt" und "Seelenwanderung" - Gedanken zu Bildern


5. Fastenpredigt 2008 - 11.03.2008


"Die Wege sind verlassen, und oft sind wir allein."

1. Einführung

Ich möchte Sie alle zur letzten Fastenpredigt in diesem Jahr recht herzlich begrüßen. Wir Dominikaner freuen uns über Ihre rege Teilnahme an unseren Fastenpredigten.
Wir danken Ihnen für ihr Kommen und für Ihre Treue. Für uns ist es ein Hinweis, dass in diesen Predigten Fragen aufgegriffen worden sind, die mehr, als man von außen wahrnimmt, Menschen bewegt.

"Die Wege sind verlassen, und oft sind wir allein." möchte ich im Zusammenhang mit dieser Predigt verstanden wissen:
Wir alle legen wert darauf, in wichtigen Dingen selbst zu entscheiden. Wenn uns auch der Rat und die Hilfe vertrauter Menschen lieb sind, so wollen wir uns trotzdem ein eigenes Urteil bilden. Wir wollen Verantwortung übernehmen. Dies kann und soll uns Keiner abnehmen. Das letzte und tiefste Alleinsein, die letzte Einsamkeit - und nach christlichem Verständnis - die letzte Möglichkeit, sich zu entscheiden, ist der Prozess des Sterbens. Diese Entscheidung im Zusammenhang mit dem Sterben kann der Sterbende nur allein treffen. Alle, die ihn beim Sterben und bis in den Tod begleitet haben, müssen zurück bleiben. Im Lied hieß es "oft sind wir allein".

Bei dem Thema heute "Überlegungen zu "Wiedergeburt" und "Seelenwanderung" geht es nicht um eine Unterrichtung über asiatische Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod. Es geht um einen Komplex von Gedanken und Ideen, die bei uns in Westeuropa schon seit der Antike gedacht wurden. Sie werden aufgegriffen, im esoterischen Schrifttum unserer Tage konkretisiert oder im Rahmen der Erwachsenenbildung dargelegt.
In dieser Predigt möchte ich die Begriffe "Seelenwanderung, Reinkarnation" und "Wiedergeburt" undifferenziert belassen.

Der Religionsmonitor 2008 der Bertelsmann-Stiftung kommt neben vielen anderen interessanten Aussagen zu einem für unser Thema bemerkenswerten Ergebnis:
Die religiösen Weltbilder auch solcher Menschen, die der gleichen Glaubensgemeinschaft angehören, können sehr unterschiedliche Elemente enthalten, d.h. einzelne Mitglieder orientieren sich z.B. bei unseren Themen an Vorstellungen, die dem fernöstlichen Denken vergleichbar sind, etwa der Vorstellung von Wiedergeburt. Diese Vorstellungen kommen jeweils der individuellen Lebenseinstellung mehr entgegen. Sie erscheinen eigenen Wünschen und Vorstellungen angemessener als die Lehre ihrer Religionsgemeinschaft.

Eine Umfrage des EMNID-Instituts von 1997 stellte Menschen die Frage:
Was denken Sie über den Tod?
  • Mit dem Tod ist alles aus -52 %
  • Es gibt ein Leben nach dem Tod - 43 %
  • Ich glaube, dass meine Seele in irgendeiner Form weiterlebt - 52,6 %
  • Ich glaube an die Auferstehung der Toten - 29,2 %
  • Ich glaube, dass es eine Seelenwanderung (Reinkarnation) gibt - 25,7 %
2. Karikatur: "Nein danke, wir sterben nicht" , Peter Gaymann

Auf der Dokumenta 1992 in Kassel gab es eine viel beachtete Ausstellung mit Karikaturen zum Thema Tod. Eine Karikatur von Peter Gaymann trug den Untertitel "Nein danke - Wir sterben nicht."

"Betteln und Hausieren verboten" las ich an der Eingangstüre eines Wohnhauses in Bonn.
Unsere Karikatur konkretisiert dies: Der Tod steht vor der Tür. Aber die Hausfrau behandelt ihn wie einen reisenden Verkäufer, dem man die Ware nicht abkaufen will. Er wird abgewimmelt und zum Nachbarn weitergeschickt.
Der Tod ist immer Tod des andern, der eigene Tod bleibt unvorstellbar: "Nein, wir sterben nicht." Sarkastisch wird vom Karikaturisten etwas Unsinniges, die Verdrängung des Todes, angesprochen.
Vieles scheint diese Behauptung zu belegen, dass Tod und Sterben in der Öffentlichkeit unserer Gesellschaft ausgegrenzt werden. Man spricht nicht gern über den eigenen Tod, es sei denn, eine schwere Krankheit oder die Nähe des Todes erzwingt, sich mit diesem Thema zu befassen.

Ebenso wahr ist, dass in der Hospizbewegung Menschen entdecken, die Annahme und die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben können aus der Lethargie und aus der Passivität heraus führen. Sie sehen die Chance, eine ehrliche Einstellung gegenüber dem Tod zu finden und so menschlich zu wachsen.


"Nein danke - wir sterben nicht!"

In Trauerseminaren oder in Gruppengesprächen können Betroffenheit und Trauer über den Tod eines nahe stehenden Menschen ausgesprochen und aufgearbeitet werden.
Sterben ist in unserer Zeit zu einem höchst persönlichen und privaten Vorgang geworden. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu früheren Zeiten. Die Individualisierung der Gesellschaft wird auch im Umgang mit dem Tod sichtbar.

Schließlich ist parallel zu all dem schon Gesagten außerhalb der kirchlichen Tradition das Thema Tod als dramatischer Moment in den Unterhaltungsmedien zu finden. Meist hat der Tod im Krimi die Funktion, eine spannende Handlung zu initiieren. Viel-leicht folgt dem Krimi im Fernsehen ein Film in dem Format: Mystery, Horror, Fantasie. Hier wird mit der realen, der fiktionalen oder der übersinnlichen Wirklichkeit spielerisch umgegangen.
In der Filmtrilogie "Herr der Ringe" kommt es im letzten Film nach der Rückkehr des Königs zu einer großen Entscheidungsschlacht. Als es kritisch wird, erhält er Verstärkung aus dem Reich der Toten. Mit ihr kommt die Wende, d.h. aus dem Reich der Toten kommt höchst lebendig Hilfe für die bedrängten Guten dieser Welt.
Spielerisch, dramatisch, spannend und unterhaltsam wird hier die absolute Grenze zwischen Tod und Leben relativiert.
Es gibt ein Videospiel "Afterlife - Chaos im Jenseits" Aus der Aufgabestellung nur zwei Sätze: "Ihre Aufgabe ist es, den Seelen zwei neue Heimaten zu erstellen:
Himmel und Hölle ... Spielen Sie Gott!"
Auch andere Videospiele lassen den Spieler/in in einer virtuellen Welt zeitlich begrenzt über Leben und Tod entscheiden und unterhaltsam Allmachtsgefühle erleben.

Vorläufige Zusammenfassung: Nicht nur der Tod, sondern auch das Jenseits kommen im Alltag vor, allerdings nicht in religiös und kirchlich vorgegebenen Bildern und Sprachformen sondern vielfältig, unterhaltsam und oft sehr trivial in der Sparte Medien.

Zweite Karikatur: "Da ist es wieder … das Gefühle, dass ich in einem früheren Leben jemand war mit dem Namen Shirley MacLaine" - Gary Larson
(im "Stern" Nr. 34, 1989)

Die Karikatur zeigt im Vordergrund zwei Echsen in einer unwirtlichen Wüstenlandschaft. Neben den beiden Kakteen, die ja der Hitze der Wüste standhalten, auf einem stilisierten Felsen ein Skorpion als Hinweis auf Gefährlichkeit und Tod.
In diesem Kontext wird dann die Erinnerung an ein früheres Leben ausgesprochen, Shirley MacLaine gewesen zu sein.

Die Karikatur setzt voraus:
Der Leser kann mit dem Begriff Reinkarnation etwas anfangen.

Die amerikanischen Schauspielerin Shirley MacLaine ist Vertreterin dieser Vorstellungen. In 7 autobiografischen Büchern gibt sie Auskunft über ihren Weg der Suche nach Identität und dem Sinn des Lebens. Sie ist Weltreisende, feministische Aktivistin, für die Gerechtigkeit in aller Welt politisch engagiert. Sie findet sie in der Idee von der Inkarnatio eine Deutung ihres Leben und der Probleme, denen sie weltweit begegnete.


"Da ist es wieder … das Gefühle, dass ich in einem früheren Leben jemand war mit dem Namen Shirley MacLaine"

Neben dieser Karikatur tauchte einmal in der Autowerbung folgender Werbespot auf:
"Mein Freund glaubt, der neue Golf sei ein ganzheitliches Wesen, das mein negatives Karma absorbiert. - Inzwischen glaube ich das auch." Das Auto suggeriert, nicht mehr nur Mittel zum Zweck zu sein, sondern es wird zum Symbol des gelingenden Lebens. Mit ihm kauft man das Glück und eine gute Zukunft.

Das Wort Recycling bietet sich nahezu an, den Gedanken der Wiedergeburt als einen lobenswerten Vorgang werbemäßig zu nutzen.
Eine Weißblechindustrie-Reklame zeigt eine Dose auf der Psychiater-Couch. Dem Therapeuten mit einem Pendel gesteht sie: "Unter Hypnose erinnern sich 81% aller Dosen an ein früheres Leben." So wird darauf angespielt, dass in der Reinkarnationstherapie eine Wiedererinnerung an ein früheres Lebens möglich sein soll.

3. Zwei Fotos aus dem Japanischen Garten, Düsseldorf

Auf dem ersten Bild kann der Betrachter sehen bzw. ahnen, dass das Wasser auf dem Dunkel der Erde entspringt.



Es stürzt über einen Felsen in eine seeartige Verbreiterung. Aus ihr gleitet es sanft über eine abgerundete Felskante in eine zweite Erweiterung, einen kleinen See. Im Vordergrund sieht man wiederum einen Wasserfall. Der kleine Bach verliert sich schließlich in einem kleinen Teich.

Diesen Teich zeigt das zweite Bild.



Die Mündung des Baches liegt auf diesem Foto in der Mitte der oberen Schattenzone.
Beide Bilder zusammen genommen zeigen symbolhaft den Verlauf eines Flusses, von der Quelle bis zur Mündung. Er entspringt aus der Tiefe der Erde kommend und sucht sich seinen Weg zwischen Steinen und Geröll. Er stürzt sich über Felskanten und findet unterwegs hin und wieder einen Untergrund, der ein breiteres Flussbett zulässt. Dort kann er ruhiger dahinfließen. Schließlich mündet er im Meer.
Ich denke, dass auf den beiden Fotos der Rhythmus zwischen schäumender, schneller Bewegung und ruhigem Dahinfließe erkennbar ist. Weiterhin erstaunlich ist, wie schnell der See den Fluss aufnimmt. Es könnte ja auch vermutet werden, dass die Bewegung der Wellen beim Einmünden des Baches in den See sich bis weit in den See hinein ausdehnen würden. Erstaunlich schnell geht der Bach in der Ruhe und Bewe-gungslosigkeit des Sees auf.

Für unser Thema "Wiedergeburt" und "Seelenwanderung" lassen sich aus dieser kurzen Bildbetrachtung zwei unterschiedliche Modelle der Interpretation des menschlichen Lebens ableiten.

Das gradlinige Modell ist uns Christen geläufig. Die traditionelle Theologie spricht davon: Jeder Mensch ist seit Ewigkeit ein Gedanke Gottes. Er wird in die Zeit hinein, in eine Familie hineingeboren, um immer mehr Mensch zu werden, seinen Beitrag am Aufbau der menschlichen Gemeinschaft zu leisten und sein Leben durch seine Kinder weiter zu geben. Wenn es Gott Wille ist, ruft ihn Gott und leitet ihn durch den Tod in seine ewige Gemeinschaft.
Bildlich gesehen: Der Fluss entspringt, bahnt sich den Weg Gebirge und Ebenen und mündet in die Weiten des Meeres.

Dieser Gedanke lässt sich auch weiter denken zu einem zweiten Modell.
Aus dem Meer verdunstet das Wasser, steigt auf und zieht als Wolken über Meer und Land. Es regnet hernieder, tränkt die Erde und ermöglicht Leben. Oder es sammelt sich in den Bergen, entspringt als kleiner Fluss im Gebirge, um seinen Weg angereichert durch Bäche und Flüsse ein weiteres Mal ins Meer zu suchen. Dieses zyklische Modell entspricht dem Kreislauf der Natur. Wir erleben ihn ja in den Jahreszeiten.
An diesen Kreislauf der Natur knüpft der Gedanken der Wiedergeburt an.
Dabei gibt es einen Unterschied zwischen der Vorstellung der asiatischen Religionen und dem westlichen Denken.
Im Osten ist die Wiedergeburt eine Last. Der Buddhismus und in ähnlicher Form der Hinduismus sieht im Kreislauf der Wiedergeburten einen Weg der Läuterung oder eine Strafe entsprechend dem Gesetz des Karma. Es bewertet das Leben und bestimmt die Art und Qualität der Wiedergeburt. Der endgültige Tod und das Eingehen in das Nir-wana bleiben erstrebenwertes Ziel. Das letztlich undefinierbar Nirwana könnte mit: absoluter innerer Ruhe, frei sein von der Unruhe des Geistes, allen Wünschen und Denkvorgängen, sowie dem Verlust der Identität umschrieben werden.
Am "Psalm" des Dichters Tukaram (1598 - 1650) wird des Lebensgefühl des frommen Hindu spürbar.
"Welches Leiden im Kreislauf des Lebens. Vor der Empfängnis im Mutterschoß wurde ich schon 8.400.000 Mal geboren. Und nun bin ich hier, mittellos, ein Bettler. Die Summe meines Lebens hält mich wie ein Netz umfangen. Unzählige Zeitalter sahen mich in diesem Zustand. Ich weiß nicht wie viele noch kommen."
Der Dichter beschreibt die Erfahrung der Unbeständigkeit, den wiederkehrenden Verlust des Glücks durch Leiden und die Bindung an das Prinzip des Karma.

Dem gegenüber ersehnt die westliche Tradition in der Wiedergeburt eine wünschenswerte Beständigkeit über den Tod hinaus. "I c h werde wieder geboren" würde hier fast triumphierend ausgesprochen, wohin gegen dieser Wunsch im Osten als Ausdruck verblendeter Ich-Sucht gesehen wird, d.h. die westliche Vorstellung legt den Wert auf die Möglichkeiten der Wiedergeburt, die östliche ersehnt, aus dem Kreis dem Kreis der Wiedergeburten heraus zu kommen.

Vertreter/Vertreterinnen der westlichen Inkarnation verwenden immer wieder das Bild der Schule:
Wiedergeburt wäre dann wie eine Versetzung in eine höhere Klasse.
Lernen und Fortbilden gehören zu unserer Kultur der Leistung und des Wohlstandes. Lernen ist nicht nur mit Schule und Berufsausbildung eine Aufgabe der jungen Leute, sondern Lernen begleitet auch die Berufstätigkeit in der Form der Fort- und Weiterbildung. Senioren besuchen manchmal Akademien, Volkshochschulen oder Universitäten, um nachzuholen, wozu der Verlauf des Lebens sie nicht kommen ließ, was für sie aber trotzdem noch interessant und bereichernd ist.
Wie viele Möglichkeiten zum erweiterten Kennen-Lernen der großen Welt können mit Bedauern nicht wahrgenommen werden? Alles bietet sich als attraktiv und lebensbedeutsam an. Reinkarnation überführt dieses Leitprinzip "Leben ist lernende Entwicklung" in den Bereich des Lebenssinns und des Religiösen.
So kann ein Lern- und Reifungsprozess der Persönlichkeit von Leben zu Leben erfolgen. Auf die Frage, was nach dem Tod bleibt, versichert die Reinkarnation im Westen dem Einzelnen den individuellen Erhalt seiner Existenz. Ich bin es, der bleibt. Ich erhalte eine 2., eine 3. Chance.

Auch die berühmte Theodizeefrage: "Warum lässt Gott das zu?" würde durch die Verbindung von Wiedergeburt und dem Karma relativiert. Denn das individuelle Schicksal erscheint nun eingebettet in einen größeren Zusammenhang vieler Lebensläufe ein und derselben Person.
Damit wird der Einzelfall relativiert, und die erfahrene Sinnlosigkeit durch eine rationale Erklärung abgemildert. Indem das einzelne Leben mit seinen erlebten Benachteiligungen in einen Entwicklungsprozess über mehrere Leben hinein gestellt wird, kann der Betroffene sich mit dem Gedanken trösten: Mein Schicksal ist karmagemäß, die logische und gerechte Folge meines eigenen vorangegangenen Lebens. Und in meinem nächsten Leben wird alles anders und besser.

Der Erfolg der Reinkarnationsvorstellungen scheint mit dem Fehlen moderner Formulierungen und Bilder christlicher Jenseitshoffnungen parallel zu gehen. Die klassischen Vorstellungen vom jüngsten Gericht, vom Lobpreis vor dem Thron Gottes oder die Erwartungen einer paradiesischen Welt mit anhaltenden Freuden können nicht mehr allgemein begeistern, gar nicht zu sprechen von der Furcht vor Gott, dem strengen Richter. Alles wird gerne der mittelalterlichen Vergangenheit zugeordnet.
Und theologische Spekulationen einer Begegnung mit Christus im Tod eines Boros oder Rahners haben nur Zugang zu kleineren Zirkeln gefunden. Sie sind aber nicht pastoral gesehen zum religiösen Allgemeingut geworden.

So bietet die Reinkarnationsvorstellung eine moderne Fassung der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod an, die Menschen anspricht, weil sie sie bei ihren Fragen und Bedürfnissen abholt.

Gott als persönliches Gegenüber, das eine Beziehung zu mir auf der Basis der Liebe aufbauen will, kommt nicht mehr vor. Es ist ja schon alles geregelt.

4. Joh 3, 1-8, 14-16 "neu geboren werden …"

In dem Text hörten wir Formulierungen wie
"Wenn einer nicht neu geboren wird ..." oder "Wie kann ein Mensch ein zweites Mal geboren werden, wenn er alt ist?"
Darum nun die Frage: Gibt es das Modell oder die Verheißung der Wiedergeburt auch im neuen Testament?
Kurze vorläufige Antwort: Wenn ja, dann geschieht sie schon in der Zeitlichkeit des irdischen Lebens auf der Grundlage des Glaubens und der Taufe.

In dem Dialog zwischen Jesus und Nikodemus erscheint mir Nikodemus wie ein moderner Mensch. Er will rational das Thema angehen. So fragt er sich: Was ist dran an der Person dieses Jesus aus Nazareth, an seinen Taten, seinen Wundern? Wie lässt sich in seinem Handeln Gott nachweisen.
Jesus beantwortet das Anliegen, indem er dem Wissen, einer durch die Ratio begründeten Sicherheit, das Vertrauen entgegenstellt. Das Vorschuss-Vertrauen, d.h. sich ohne Rückhalt auf Gott einzulassen, ist der Weg, auf dem sich Gott finden lässt.
Oder anders gesagt, Gottes Wirklichkeit "erkennen" - im Text hieß es ‚Gottes Königtum sehen' - kann nur ein Mensch, der von der Wirklichkeit Gottes schon berührt ist. Die Qualifikation hierfür ist die Annahme des Glaubens.
Im Prolog des Johannesevangelium wird formuliert: "aus Gott geboren sein."
Der Anteil des Menschen an diesem Vorgang "aus Gott geboren werden" ist, sich auf Gott einzulassen. Wenn Gott handelt, dann hat der Mensch keine Möglichkeit, dies zu überprüfen. Er muss dem Wirken Gottes einstweilen vertrauen. Erst im Nachhinein kann er sich sicher sein, es muss neben meinem Tun auch Gott mitgeholfen haben. Dem menschlichen Handeln ginge dann immer - wie eine Einladung - Gottes Gnade voraus.

Damit muss Nikodemus erkennen, dass sein Ansatz, das Problem ‚Gott mit Jesus' rational abzuklären, zu keinem befriedigenden Ergebnis führt.
Er stellt nun die Verständnisfrage: Wie kann ein Mensch ein zweites Mal geboren werden, wenn er erwachsen ist. Oder anders formuliert: Wie kann ein Mensch, solange er noch lebt, neu geboren werden?
Die Antwort, die Jesus in diesem Zusammenhang gibt, lautet etwa so:
Da der Mensch "Fleisch" d.h. irdisch ist, begegnet er im Vertrauen auf sich selbst nur seinen natürlichen Möglichkeiten.
Sobald er aber der Wirklichkeit Gottes vertraut, erhält er ein anderes Woher und Wohin, einen anderen zusätzlichen Seinsgrund, d.h. er gewinnt eine andere, zusätzliche Sicht auf diese Welt, und er erhält ein neues Lebensziel, auf das er hin lebt.
Das ist ausgedrückt in der Formulierung aus: "Er wird neu geboren." Er wird Geist, d.h. er hat Anteil an der Göttlichkeit Gottes. Denn auch Gott ist immateriell, ist Geist.
"Neu geboren werden" ist aber keine äußerlich feststellbare Seinsveränderung, keine fleischliche Wiedergeburt, kein Kindwerden eines Greises, wie Nikodemus sich das vorstellt. Neu geboren werden aus dem Geist ist eine neue Existenz eingebettet in das alte irdischen Leben.
Mit der Geburt aus dem Geist ist es z.B. wie mit der Liebe. Auch sie ermöglicht eine neue Existenz. Sie verwandelt den Menschen innerlich, ohne ihn äußerlich zu verändern. Liebe macht sehend, weil der Liebende sein Leben anders sieht, indem er den Geliebten in sein Denken und Handeln mit einbezieht. Diese Verwandlung oder diese zusätzliche Sicht der Welt ist rational nicht feststellbar.
Jesus vergleicht die Wirkung der Geburt aus dem Geist mit dem Wehen des Windes. Wir spüren den Wind, kennen aber nicht im konkreten Fall seinen Ursprung, woher er kommt.

Das trifft auch auf die Person und den Menschen Jesus von Nazareth, auf sein Schicksal und auf seinen Tod am Kreuz zu. Ihm ist sein himmlische Herkunft und sein Messias-sein äußerlich nicht anzusehen. Nur im Vertrauen auf Jesu Worte, kann sie erfasst werden.
Erschütternd ist ja die Frage Johannes des Täufers an Jesus: Bist du es, der da kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten? Der Leser des Evangeliums erinnert sich, dass doch Johannes bei der Taufe die Stimme vom Himmel hörte: "Dies ist mein Sohn, mein Geliebter." Trotzdem gibt es bei Johannes Krisen und Zweifeln.
Die Antwort Jesus, indem er in der Sprache der heiligen Schriften auf sein Tun hinweist, ist für den fragenden Verstand nicht befriedigend. Die Antwort ist ein Apell an das Vertrauen.
Im Vertrauen sehen wollen ist der Weg, die himmlischen Geheimnisse wahrzunehmen und sich zu Eigen zu machen. Nur der von oben Gekommene, der Christus, kennt die himmlische Herrlichkeit des Vaters. Er hat sie den Menschen mitgeteilt.
Aus sich selbst und ohne den Geist könnte der Mensch nicht auf Gottes Absichten mit dem Menschen kommen oder sie ergründen.
Darum ist der Glaube, die Fähigkeit und Willigkeit, sich Gott anzuvertrauen und die Bereitschaft, auf ihn zu hören, die Voraussetzung für die Geburt von oben, die Geburt aus dem Geist, die Geistwerdung des Menschen. Es ist die einzige Möglichkeit, der Wirklichkeit Gottes zu begegnen und teilzuhaben am unendlichen Leben.

Jesus versucht sein Anliegen "Rettung der Welt durch die Geburt aus dem Geist" weiterhin zu erklären durch die Erinnerung an eine Begebenheit aus der Wanderung und Reifung seines Volkes in der Wüste.
"So wie Mose die Schlange in der Ödnis erhöht hat, so muss erhöht werden der Menschensohn." (Joh 3,14a)
Jesu Leiden und Sterben kann der gläubige Mensch wie ein Liebender tiefer und umfassender sehen, sozusagen in den Kontext des Willen Gottes einordnen.
Nach Jesu Sterben und Auferstehen wird sich Jesu Aufstieg dorthin vollziehen, woher er kam. Es ist die Heimkehr zu Gott, seinem Vater, der nun auch, weil Jesus Mensch wurde und menschliches Schicksal erlebte, unser Vater geworden ist. Jesu Sterben sieht der glaubende und Gott vertrauende Mensch nicht als Widerlegung der Botschaft, um derentwillen Jesus Mensch wurde, sondern als Zeichen des Heils für alle.
Die unerklärbare und geheimnisvolle Liebe Gottes gibt dem Menschen Anteil an sich, indem er ihm seinen Geist mitteilt, d.h. ihn erhöht durch die Geburt im Geist. Das neue Woher ist nun beantwortet, das Wohin weist in eine Richtung oder verweist auf eine Parallele zu Jesu Schicksal.

In dem Schrifttext, den wir hörten, nennt Jesus das Ziel:
"Ja, so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er den einzigen Sohn gegeben hat, damit jeder der an ihn glaubt, nicht zu Grunde gehe sondern das ewige Leben habe." (Joh 3, 16)
Unser Papst, hat in seiner Enzyklika über die Hoffnung folgendes geschrieben:
"Wir können nur versuchen, aus der Zeitlichkeit, in der wir gefangen sind, heraus zu denken und zu ahnen, dass Ewigkeit ( unendliches Leben ) nicht eine immer weiter gehende Abfolge von Kalendertagen ist, sondern etwa wie der erfüllte Augenblick, in dem uns das Ganze umfängt und wir das ganze umfangen.
Es wäre das Eintauchen in den Ozean der unendlicher Liebe, in dem es keine Zeit, kein Vor- und Naher mehr gibt. Wir können nur versuchen zu denken, dass dieser Augenblick das Leben in vollem Sinne ist, … indem wir einfach von Freude überwältigt werden." (Spe salvi, Nr. 12)

Johannes lässt Jesus dafür folgende Worte finden:
Ich werde euch wieder sehen, und euer Herz wird sich freuen, und eure Freude wird niemand von euch nehmen." (Joh 16, 22)

Sich auf das folgende Wort Jesu einlassen zu können, wäre wie ein Geschenk für die Zeit, die noch geheimnisvoll und unergründlich vor uns allen liegt:
"Ich werde euch wieder sehen und euer Herz wird sich freuen."


Lit.: Rüdiger Sachau, Weiterleben nach dem Tod? - ISBN 3-579-00988-5
Ludger Schenke, Johannes Kommentar - ISBN 3-491-77950-2
Bertelsmann Stiftung, Religionsmonitor 2008 - ISBN 978-3-579-06465-9